Prof.Heyo K.Kroemer-Vorstandsvorsitzender der Charité. Bild: Charité.
Heyo K. Kroemer: Ich möchte zunächst einmal bestreiten, dass in der Wissenschaft demokratische Prinzipien keinen Platz haben. Das trifft sicherlich für die Wahrheitsfindung oder Wahrheitsdiskussion in experimenteller Wissenschaft zu. Wenn Sie sich aber beispielsweise Auswahlprozesse für wissenschaftliche Positionen in der Bundesrepublik ansehen, gibt es nur wenige Prozesse mit einer höheren Partizipation.
Das Verhältnis zwischen Demokratie und Wissenschaft ist ja gerade in den letzten Monaten ganz besonders in den Fokus gerückt. Ich denke, dass unter dem Druck der Pandemie zum Teil übersehen wurde, dass Wissenschaft nur Entscheidungshorizonte aufspannen kann – demokratisch legitimierte Politik hingegen diese Entscheidung zu treffen hat!
Kroemer: Wir haben während der Corona-Pandemie eine ungewöhnliche Interaktion demokratisch legitimierter Entscheidungsträger mit der Wissenschaft gesehen. Dadurch hat sich ein Überschneidungsbereich ergeben, den es in dieser Form vorher nicht gab. Das Problem liegt meines Erachtens darin, dass beide Seiten – sowohl die Wissenschaft als auch die Politik – davon überzeugt sind, dass dieser Überschneidungsbereich nach jeweils ihren Regeln funktioniert. Die Politik auf der einen Seite, die eine Entscheidung nicht mehr revidieren möchte. Auf der anderen Seite die Wissenschaft, für die es immanent ist, Meinungen auf Basis neuer Erkenntnisse weiterzuentwickeln, zu adaptieren oder auch grundsätzlich zu ändern.
Kroemer: Nein, ich glaube keinesfalls, dass wir mehr Diktatur wagen müssen. Wir sollten vielmehr die demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse neuen Anforderungen entsprechend anpassen – auch nach der Corona-Pandemie. Dies gilt insbesondere dann, wenn Entscheidungen in kurzer Zeit getroffen werden müssen. Ich glaube, dass wir die Demokratie entsprechend weiter entwickeln müssen. Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist die Digitalisierung: Teils rasante Entwicklungsprozesse, die dennoch demokratisch Legitimation bedürfen, darauf müssen wir uns besser einstellen.
Kroemer: Wir können nur versuchen – wenngleich mit überschaubarer Erfolgsaussicht – sachlich zu argumentieren und darauf hinweisen, dass wir uns bei Entscheidungen, die mitunter sehr komplexe Sachverhalte betreffen, nicht auf Populismus verlassen dürfen, sondern auf Fakten vertrauen sollten. Inwieweit wir damit am Ende des Tages „durchdringen“, wird sich zeigen. Aber ich sehe das als alternativlos an!
Kroemer: Zuallererst muss ganz klar sein: Wer in die Charité kommt und Hilfe benötigt, wird nach bestem Wissen und Gewissen behandelt – unabhängig vom Bekanntheits- oder Prominentenstatus. Gleiches gilt auch für das Recht auf Wahrung der Privatsphäre. Gerade im Fall Alexej Nawalny hat das meines Erachtens ordentlich funktioniert. Dass die Charité mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht als andere große Krankenhäuser, hat sicherlich auch mit den Menschen zu tun, die zu uns kommen. Aber wie gesagt, jede Patientin und jeder Patient hat – davon bin ich fest überzeugt – denselben Anspruch auf exzellente Behandlung und auf Wahrung der Privatsphäre.
Kroemer: Ehrlich gesagt beruhigt mich der erste Teil Ihrer Frage, die ich natürlich trotzdem gerne beantworte: Neben Sport lese ich sehr gerne. Das letzte Buch „When Breath Becomes Air“ von Paul Kalanithi handelt von einem sehr erfolgreichen jungen Neurochirurgen in den USA, der plötzlich selbst an einem unheilbaren Lungentumor erkrankt und beschreibt, wie er damit umgeht. Einmal angefangen zu lesen, legen Sie es nicht wieder aus der Hand.